Die neutestamentlichen Bibelzitate im Korankommentar von Ibrahīm al-Biqāʿī
Projektbeginn: 2021
Thema: Forschungsprojekt am OIB von Dr. Thomas Würtz
Vorbemerkungen

Bei der Koranauslegung richtet sich die Aufmerksamkeit derzeit sehr stark auf hermeneutische Neuansätze. Im Fokus stehen dabei vor allem Denker wie Naṣr Ḥāmid Abū Zaid (st. 2010) oder Mehmet Paçacı (geb. 1959), die zumeist in der Tradition Fazlur Rahmans versuchen, den überzeitlichen Gehalt des Korans aus seinen historischen Bedingtheiten des 7. Jahrhunderts zu lösen und für die heutigen Gesellschaften neu zu interpretieren.
Wenn aber neue Impulse nur in relativ modernen Kommentaren oder aktuell zeitgenössischen Neuansätzen der Hermeneutik erwartet werden, drohen bislang wenig erforschte Werke aus der klassischen Kommentarliteratur aus dem Blickfeld zu geraten. Somit verdient auch ein Werk Beachtung, das Zeugnis davon gibt, wie ein muslimischer Gelehrter sich im 15. Jahrhundert ausführlich der Bibel bedient hat, um den Koran zu kommentieren.

Forschungsgegenstand

Der Korankommentator Ibrahīm ibn ʿUmar al-Biqāʿī wurde 1406 geboren und lebte ab 1431 in Kairo, wo er bald ein angesehener Gelehrter wurde. Dort arbeitete er von 1456 über mehrere Jahrzehnte bis zu seinem Tod 1480 an seinem Korankommentar Naẓm ad-durar fī tanāsub al-ayāt wa-s-suwar – Anordnung der Perlen im Zusammenhang der Verse und Suren, in welchem er sich auch biblischen Materials bediente. Dies provozierte viele seiner Gelehrtenkollegen. Er wurde daraufhin in eine heftige Diskussion verwickelt, ob es zulässig sei, die Bibel in der Koranexegese zu verwenden, was er vehement verteidigte.

Al-Biqāʿī verwendet die Bibel dabei vor allem, indem er an Koranstellen, die einen biblischen Bezug aufweisen, das Alte Testament und die vier Evangelien ausführlich zitiert. Ihm erschien die Bibel hilfreich für die Erhellung des Sinns zahlreicher Koranpassagen, die Anklänge an biblische Erzählungen beinhalten, die den koranischen Ersthörern als schon bekannt vorausgesetzt waren. Um hierauf einige Jahrhunderte später zurückgreifen zu können, argumentierte al-Biqāʿī, dass ein Muslim in Kenntnis des Korans sehr wohl wissen könne, was in den gegenwärtig verfügbaren Bibeltexten Teil der ursprünglichen göttlichen Offenbarung sei und was Produkt der Textverfälschung bei Juden oder Christen.
Bezüglich seiner konkreten Vorlage für die Bibelzitate äußert sich al-Biqāʿī selbst, insofern er schreibt, dass er drei arabische Übersetzungen der jüdischen Tora zur Verfügung hatte, wobei er das meiste einem Manuskript entnommen hat, dessen Übersetzer er nicht kennt. Zu den möglichen Vorlagen al-Biqāʿīs bei den Zitaten aus dem Neuen Testament lag ihm wohl laut manchen seiner Zitateinleitungen ein ins Arabische übersetzter Text vor. In jedem Fall beschränkt er sich aber bei den Texten aus dem Neuen Testament auf die vier Evangelien. Im Rahmen des Forschungsprojekts ist es von großer Relevanz die Vorlage genauer zu rekonstruieren.
Eine erste stichprobenartige Analyse zu Vers 4, 157, in welchem im Koran der Kreuzestod Jesu verworfen wird, ohne dass vorher die Hintergründe der Passionsgeschichte beschrieben werden, hat ergeben, dass die Zitate so weitgehend mit heutigen arabischen Bibeln harmonieren. Diese Sichtung hat ebenfalls gezeigt, dass die längeren Evangelienzitate Ansätze einer eigenen Evangelienharmonie al-Biqāʿīs ergeben.
Ein zeitgenössischer mediävistischer Ansatz von M. Borgolte bemerkt zum Verhältnis der monotheistischen Religionen im Mittelalter, dass eine „transzendentale Basis zu gegenseitigen Bezügen, sei es im Streit, sei es im Dialog, zwang.“ Die von ihm dafür vorgeschlagene Bezeichnung des monotheistischen Mittelalters passt hierzu, insofern der biblische Text bei al-Biqāʿī als Scharnier zwischen monotheistischer Gemeinsamkeit und interreligiöser Differenz erscheint.
An eine Analyse aller neutestamentlichen Zitate schließen sich im weiteren Verlauf des Forschungsvorhabens eine horizontale und vertikale Ausarbeitung an:

Auf horizontaler Ebene ist es angezeigt, genauer zu prüfen, ob es nicht doch andere klassische Korankommentatoren gibt, die die Bibel zitieren. So konnte bereits ein Beleg für ein Bibelzitat im Großen Kommentar des bedeutenden Theologen Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī (st. 1210) gefunden werden. Darüber hinaus bietet sich zumindest ein Abgleich mit dem berühmten Kommentar al-Kaššāf des Zamaḫšarī (st. 1144) an, der für sein muʿtazilitische Auslegung bekannt ist, was es ermöglichen würde, ein breiteres Spektrum der klassischen islamischen Theologie einzubeziehen. Allerdings sind hier nur sehr wenige Belegstellen zu erwarten, da es wie schon ausgeführt, kein Standard für Kommentatoren war, die Bibel zu zitieren. Dennoch ist eine Überprüfung integraler Bestandteil des Projekts.
In vertikaler Ausrichtung gilt es zu untersuchen, ob sein Kommentar heute noch eine Rolle spielt und wie er zu der übrigen Kommentarliteratur in Beziehung gesetzt wird. Eine Untersuchung der zeitgenössischen Rezeption von al-Biqāʿī ist daher unerlässlich.

Konkrete akademische Kontextualisierung des Forschungsvorhabens

Die Erforschung von al-Biqāʿīs Korankommentar am Orient Institut Beirut bietet im Hinblick auf Vernetzung und Interdisziplinarität besonders gute Ausbaumöglichkeiten. Im Forschungskonzept Beziehungen / Relations ist die Analyse des Korankommentars auf der Ebene der Beziehung von Mensch und Göttlichem angesiedelt. Schließlich ist Auslegung einer Offenbarung der Versuch des Menschen zu verstehen, wie sich Gott die Beziehung zu ihm als Menschen wünscht. Darüber hinaus ist diese Forschung auch für die innergesellschaftliche Beziehung im muslimisch-christlichen Miteinander anschlussfähig, liefert sie doch empirisches Material für geteilte Textgeschichte. Forschung hierzu hat insbesondere auch im Libanon eine hohe politische und gesellschaftliche Relevanz.
Wenn al-Biqāʿīs Kommentar mehr Sichtbarkeit erhält, können muslimische Theologen darauf Bezug nehmen und diskutieren, wie sein Ansatz die zeitgenössische Koran-hermeneutik befruchten könnte, was eine interdisziplinäre Rückkoppelung ermöglicht.