DHI Warschau
Monetarisierungsmomente, Kommerzialisierungszonen oder fiskalische Währungslandschaften? Silberverteilungsnetzwerke und Gesellschaften in Ostmitteleuropa (800–1200)
Projektbeginn: 2020
beteiligte Personen: Dariusz Adamczyk
Themengebiet: Wirtschaft, Wirtschaftsgeschichte, Geschichte allgemein
Ort: Europa, Polen
Epoche: Mittelalter
Eines der interessantesten Phänomene in der früh- und hochmittelalterlichen Geschichte des östlichen Europa stellen zahlreiche Funde ebenso von Münzen und Hacksilber wie in Form von Schmuck, Barren und Gusskuchen dar. Allein in Polen wurden mehrere Hundert Schätze sowie etliche Einzelstücke, die aus Siedlungen, Burgwällen und Gräberfeldern stammen, freigelegt bzw. zufällig entdeckt und ins 9. bis 12. Jahrhundert datiert. Sie vermitteln den Eindruck, dass die Nutzung von Edelmetallen als Zahlungsmittel sowie die Ausbreitung des Marktes und einer ökonomischen Handlungslogik im Leben der betreffenden Gesellschaften weit fortgeschritten waren. Doch das Vorkommen von Silber muss nicht automatisch auf Monetarisierung und Kommerzialisierung schließen lassen, denn vormoderne Ökonomien beruhten in der Regel auf den Prinzipien der Reziprozität und Redistribution. Die Entwicklung der Märkte und die Nutzung von Edelmetallen können folglich keineswegs isoliert von gesellschaftlichen, politischen, fiskalischen und kulturellen Prozessen betrachtet werden. Sodann sind die außermonetären Kontexte im Blick zu behalten und verschiedene Mentalitäten von Menschen zu berücksichtigen, die sich nicht ausschließlich nach der ökonomischen Verwertungsgesinnung orientierten.

Von zentraler Bedeutung erscheint dabei die Frage, welche Funktionen Münzen und Hacksilber, Hals- und Armreife oder Barren und Stangen im Austausch erfüllten. Beschränkte sich ihre Verwendung lediglich auf eine Prestige-, Gaben- und Potlatchökonomie und die Fernhandels- bzw. Regionalmärkte, oder zirkulierten sie ebenfalls im lokalen Handel? Wie kann man den Grad der Monetarisierung „messen“ und ab wann von einer Kommerzialisierung sprechen? Welche Entwicklungen in welchen Regionen hat es zwischen dem 9. und dem späten 12. Jahrhundert gegeben? Deuten Funde von fragmentiertem Silber, entdeckt fernab von Emporien, auf ökonomische Funktionen hin, oder müssen wir nach anderen Erklärungsmustern für das Zerteilen von Münzen und Schmuck suchen? Und schließlich: War die Monetarisierung ein linearer Prozess, oder wies sie mehr Brüche als Kontinuitäten auf?

Bislang fehlt eine Studie, die die oben angesprochenen Zusammenhänge sowohl chronologisch über vier Jahrhunderte hinweg systematisch untersucht, wie auch unter dem Aspekt der Geographie – zwischen den einzelnen Regionen Polens differenzierend und unter komparativer und interaktiver Einbeziehung der benachbarten Räume im Westen (elbslawische Gebiete), Osten (Ukraine und Russland) und Norden (Dänemark und Schweden).

Hier setzt das Vorhaben an, das aus zwei Schritten bestehen soll:
Der erste, bereits abgeschlossene Teil rekonstruiert und kontextualisiert die trans- und kontinentalen Silberverteilungsnetzwerke in Raum und Zeit. Sie werden pragmatisch definiert: als Gruppen von Akteuren, die Strukturen und Logistiken schufen, die dem Transfer und Umlauf von Edelmetallen dienten. Dabei wiesen sie eine Vielfalt von Formen auf, die ebenfalls die Versorgung mit den benötigten Tauschgütern umfassten.

Der zweite zentrale Baustein der Studie befasst sich mit der Frage, ob die Nutzung von Edelmetallen der Logik eines homo politicus folgte oder eher derjenigen eines homo oeconomicus entsprach. Demgemäß soll anhand regionaler und chronologischer Mikrountersuchungen geprüft werden, inwieweit und unter welchen gesellschaftlichen und ökonomischen Konstellationen Edelmetalle innerhalb einer Gemeinschaft als Zahlungsmittel fungierten. Um der Komplexität der historischen Entwicklung Rechnung zu tragen und sie nicht monokausal oder eindimensional zu erklären, wurde ein Bündel von Indikatoren entworfen, anhand dessen die Befragung der jeweiligen Konstellationen und Parameter stattfindet. Dazu gehören:
- Fundort
- Dichte und Anzahl der Schatzfunde
- Dichte der Einzelfunde
- Grad der Münz- und Silberfragmentierung
- Vorkommen von Gewichten und Waagen
- Anteil an nichtmonetärem Silber, z. B. in Form von Schmuck
- Chronologische und regionale Struktur der in den Schatzfunden befindlichen Münzen
- Ausprägung einheimischer Münzen
- Schließlich sind die gesamtgesellschaftlichen, politischen und fiskalischen Kontexte der Silbergenerierung von Relevanz. Dazu gehören unter anderem exogene Impulse wie die Nachfrage nach bestimmten Gütern, endogene Impulse wie Bevölkerungsdichte und -wachstum, politische Faktoren wie die Entstehung von Macht- und Herrschaftszentren sowie magisch-rituelle Funktionen.

Damit soll ein substantieller, auf interdisziplinären Ansätzen beruhender Beitrag zur Analyse sowohl der Interaktions- und Kommunikationsformen innerhalb der einzelnen Gesellschaften Ostmitteleuropas als auch der gegenseitigen Verflechtungen und Einflüsse zwischen verschiedenen Akteursgruppen des westlichen Eurasiens geleistet werden. Um die dünne Basis der schriftlichen Quellen zu erweitern, werden die Ergebnisse der benachbarten Fachgebiete Archäologie und Anthropologie einbezogen und mithilfe der erstellten Datenbank in geschichtswissenschaftliche Fragestellungen eingebettet.