DHI Warschau
„No Sex Please, We are Catholic“. Reproduktion und Partnerschaft im Spannungsfeld zwischen (De-)Säkularisierung und (De-)Privatisierung von Religion in Irland und Polen
Projektbeginn: 2020
Antragsteller/-in, Sprecher/-in, Projektleitung: Michael Zok
Themengebiet: Geschichte allgemein
Ort: Europa, Polen, Großbritannien
Epoche: Neuzeit
Das Forschungsvorhaben hat das Ziel, die in aktuellen religionssoziologischen Studien zutage tretenden unterschiedlichen Ergebnisse („(De-)Privatisierung“, „(De-)Säkularisierung“) durch eine vergleichende historische Langzeitanalyse zweier sich aufgrund von kulturellen und historischen Faktoren ähnelnder Gesellschaften (Irland und Polen) – darunter die lange Dominanz der katholischen Kirche in gesellschaftlichen Debatten – zu hinterfragen. Dabei steht die Analyse spezifischer Pfadabhängigkeiten und Bedingungen, die die Wirkungsmacht von „säkularen“ bzw. „kirchlichen“ Normen steigern bzw. abschwächen, im Mittelpunkt. Ferner werden Faktoren beleuchtet, die einen „Wertewandel“ in den beiden gewählten Gesellschaften ermöglich(t)en bzw. behinder(te)n. Diskurse über Reproduktion und Partnerschaft eignen sich hierfür hervorragend, da gesellschaftliche Auseinandersetzungen gerade in Bezug auf Reproduktion und Geschlechterverhältnisse keineswegs eine „stille Revolution“ (Inglehart) darstellen, sondern deutlich wahrnehmbar sind. Dass sich solch ein „Wertewandel“ in einer Gesellschaft durchaus schnell vollziehen kann, lässt sich am irischen Beispiel feststellen: Hier lagen zwischen dem Referendum, das dem nahezu vollständigen Abtreibungsverbot Verfassungsrang erteilte (1983), und demjenigen, das sie erstmals in der Geschichte Irlands legalisierte (2018), gerade einmal 35 Jahre. Flankiert wurden diese beiden Ereignisse von heftigen und emotional geführten Debatten.

Bei der Analyse liegt gemäß der Methode der historischen Diskursanalyse ein Fokus einerseits auf Zeiten der diskursiven Verdichtungen, etwa bei gesellschaftlichen Debatten um Reproduktion und Partnerschaft (Gesetzgebung zu Ehe, Familie, Scheidung, Abtreibung, Verhütung). Dabei wird ein möglichst großes Sample an Quellen und den darin enthaltenen Aussagen analysiert werden, um Gesetzmäßigkeiten und (Sagbarkeits-)Regeln des Diskurses nachzuzeichnen. Des Weiteren liegt ein Schwerpunkt auf den Grenzen und deren Durchlässigkeit. Die historische Diskursanalyse soll dazu dienen, nachzuweisen, unter welchen Bedingungen und in welchen Machtkonstellationen bestimmte Aussagen aus dem imaginären in den virtuellen Diskurs und vice versa überführt wurden, und welche Faktoren dazu führten, dass die Diskurshoheit von einem Akteur auf einen anderen überging. Von besonderer Bedeutung sind ferner damit verbundene Abwehrstrategien, um die Hoheit aufrechtzuerhalten. Die Diskurshoheit stellt nicht nur einen Indikator für die Macht bzw. soziale Relevanz des jeweiligen Akteurs dar, sondern mit ihr hängt auch die Umsetzung der diskursiv konstruierten Vorstellungen in die soziale und rechtliche Praxis zusammen.

Das Projekt legt aufgrund seiner Ausrichtung zudem einen Fokus auf Phasen der beschleunigten Modernisierung (gekennzeichnet durch funktionale Differenzierung, Anstieg des Wohlstands-/Bildungsniveaus etc.) nach 1945. Hierzu zählen für Irland besonders die Jahre der Regierung von Seán Lemass und Jack Lynch (1959-1973) sowie die 1990er Jahre, als die irische Gesellschaft einen spürbaren Wohlstandsanstieg verzeichnete und sich der Celtic Tiger herausbildete. Zudem fällt in den zweiten Zeitraum die Offenlegung von (Missbrauchs-)Skandalen innerhalb der katholischen Kirche in Irland. Für Polen lassen sich verschiedene Phasen der beschleunigten gesellschaftlichen Entwicklung nachweisen (Hochstalinismus, 1960er und 1970er Jahre, die Pluralisierung und Demokratisierung in den 1990er Jahren sowie der Ausbau der wirtschaftlichen Potenz seit dem EU-Beitritt). Um die Effekte dieser Phasen, besonders aber auch der Beitritte zur EG (1973) bzw. zur EU (2004) in einer Langzeitperspektive zu untersuchen, wird der Untersuchungszeitraum mit dem Jahr 2015 enden, da in diesem Jahr auch eine der letzten diskursiven Verdichtungen in beiden Gesellschaften erfolgt.