DHI Warschau
Im Spannungsfeld von Ideologie, Religion, Sprache und regionaler Identität. Die NSDAP im Ermland 1928-1945
Projektbeginn: 2020
Antragsteller/-in, Sprecher/-in, Projektleitung: Ralf Meindl
Themengebiet: Geschichte allgemein
Ort: Deutschland, Europa, Polen
Epoche: Neuzeit
Ostpreußen wurde im 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von einem sehr differenzierten Regionalismus geprägt. In Teilen der Provinz wurde überwiegend Polnisch oder Litauisch gesprochen, das Ermland bildete eine katholische Insel im ansonsten fast ausschließlich evangelischen Land. Jede der Teilregionen hatte auf dieser Basis eine eigene Kultur entwickelt, die sich oft erheblich von derjenigen der Nachbarregionen unterschied. Besonders deutlich wird dies beim Ermland. Dieses in sich sehr heterogene Gebiet definierte sich durch die historischen Grenzen des Fürstbistums Ermland, das sich 1525 der Reformation verweigerte und so zur katholischen Enklave im protestantischen Herzogtum Preußen wurde. Seine Bevölkerung war seit dem Mittelalter in mehreren Wellen aus deutschsprachigen Gebieten und aus Polen eingewandert, weshalb der südliche Teil des Ermlandes zweisprachig war.

Vor diesem Hintergrund bildete das Ermland selbst im heterogenen Ostpreußen ein Phänomen sui generis. Seine katholische Grundierung prägte auch das politische Verhalten der Ermländer – spielte die katholische Zentrumspartei in den anderen Regionen Ostpreußens keine Rolle, so wurde sie im Ermland mit großer Mehrheit gewählt. Für die NSDAP galt das Gegenteil. Während der protestantisch-ländliche Teil Ostpreußens geradezu prototypisch dem sozio-politischen Profil einer Erfolgsregion der Partei Hitlers entsprach, bildete das Ermland ebenso prototypisch das Wählermilieu ab, in das die NSDAP kaum eindringen konnte. Sowohl die Wahlergebnisse als auch einige Widerstandshandlungen nach 1933 bestätigen dies.

Die NSDAP betrieb großen Aufwand, um das Ermland in eine ebensolche Hochburg des Nationalsozialismus umzuformen wie es das übrige Ostpreußen war. Davon ausgehend untersucht das Projekt die Interaktion zwischen NSDAP-Funktionären, Klerus, katholischen Vereinsaktivisten und Bevölkerung des Ermlandes als Fallbeispiel für den Versuch eines Regimes mit totalitärem ideologischem Verfügungsanspruch und seines diesbezüglich wichtigsten Organs, eine sich verweigernde Region gefügig zu machen bzw. für sich zu gewinnen. Dabei soll die These untersucht werden, dass es den nationalsozialistischen Organen zwar bei Teilen der Bevölkerung gelang, diese für sich zu gewinnen, insgesamt aber gerade der Versuch, die regionale Kultur und Identität durch eine neue, überregionale Loyalität in allen Lebensbereichen zu Führer und Ideologie zu ersetzen, zu einer Stärkung der regionalen Bindungen und Identifikationen führte.

Zur Einordnung sollen auch zwei Ausblicke herangezogen werden, die über das Jahr 1945 hinausgehen. Zum einen wird untersucht, inwieweit die Separation der ermländischen Vertriebenen von der Landsmannschaft Ostpreußen und dem BdV auch auf die verstärkte Regionalisierung der Zwischenkriegszeit zurückzuführen ist. Als Arbeitshypothese gilt hier, dass das Ermland als eine Art positiver Gegenpol konstruiert wurde zu dem in der Bundesrepublik weit verbreiteten Bild, Ostpreußen sei eine so stark nazifizierte Provinz gewesen, dass der „Verlust“ der Provinz sowie Flucht und Vertreibung als gerechte Strafe für diese Orientierung anzusehen seien. Zum anderen soll gezeigt werden, dass es der katholische Charakter des Ermlandes sowie seine polnischsprechenden Bevölkerungsteile den polnischen Neusiedlern nach 1945 erleichterten, der offiziellen Geschichtsinterpretation der Volksrepublik Polen zu folgen, welche postulierte, das Ermland sei historisch polnische Erde und durch die Grenzverschiebungen am Ende des Zweiten Weltkriegs zum Mutterland zurückgekehrt.

Die Studie wird die Identitätskonstrukte und Positionen der Akteure erarbeiten, die Interdependenzen und Dynamiken zwischen ihnen darstellen und schließlich deren Folgen für die Regionalisierungsprozesse des Ermlandes sowie deren zeitgenössische wie spätere Wahrnehmung analysieren. Das Projekt schließt damit eine Lücke in der identitätsgeschichtlichen Forschung, die es bisher verhindert hat, die regionale Entwicklung Ostpreußens in ihrer gesamten Ausdifferenzierung zu betrachten und legitimatorische Diskurse der Nachkriegszeit einzuordnen.