DHI Paris
Augmenting Realities. Speculation in Early Modern Europe
Projektbeginn: Oktober 2020
Antragsteller/-in, Sprecher/-in, Projektleitung: Christine Zabel
beteiligte Personen: Christine Zabel
Thema: Spekulation
Themengebiet: Sozialgeschichte, Wirtschaft, Wirtschaftsgeschichte
Ort: Frankreich, Europa
Epoche: Frühe Neuzeit
Das Projekt untersucht Spekulation in einer Zeit, in der Europäer und Europäerinnen damit begannen, mit Aktien zu handeln (oder in unserer Lesart: zu spekulieren) und über Spekulation zu sprechen, dies jedoch zunächst fern jeglicher Deutungen des Aktienhandels. »Augmenting Realities« fokussiert »Spekulation« insbesondere im Frankreich des 18. Jahrhunderts, bettet die Analyse jedoch in einen größeren temporalen und regionalen, europäischen Kontext ein. Das Projekt verfolgt einen wissens- und wissenschaftsgeschichtlichen Ansatz und fragt danach, welche Wissensformen in Bezug auf Spekulation praktische oder diskursive Anwendung fanden. Es untersucht, von wem diese Wissensformationen genutzt oder theoretisiert wurden, wie diese verbreitet wurden und wie sie sich durch diese Verbreitung veränderten. Weiterhin werden Grundfragen einer historischen Begriffs- und Diskursgeschichte beleuchtet: Wie dachten und sprachen Zeitgenossen über Spekulation? Welche Vorstellungen, Ängste oder Hoffnungen verbanden sich mit Spekulation? Welche politischen, sozialen oder kulturellen Positionen wurden durch den Verweis auf Spekulation verhandelt?

Im Projekt wird auf Grundlage französischer, niederländischer und britischer Archivalien und gedruckter Quellen Spekulation als eine Wissensformation verstanden, die anstelle der Regelhaftigkeit von Prozessen, vielmehr die ständigen Veränderungen des Kosmos sowie das (Noch-)Nicht-Gesehene antizipiert. Der Verweis auf Spekulation diente im ausgehenden 17. Jahrhundert etwa im Kontext der Astronomie dazu, mit Hilfe von Analogien das Nicht-Observierbare zu imaginieren (etwa Leben auf dem Mond). Diese philosophische und erkenntnistheoretische Denkweise über Spekulation als eine auf Beobachtung basierende Imagination des Unsichtbaren, die im Projekt als »Epistemologie der Ungewissheit« (Epistemology of the Uncertain) bezeichnet wird, wurde von Autoren wie etwa Bernard le Bovier de Fontenelle oder John Wilkins in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts im Rahmen der so genannten Querelle des Anciens et des Modernes entwickelt.

Diese Epistemologie der Ungewissheit wurde seit Mitte des 18. Jahrhunderts dann von ökonomischen Denkern in Frankreich benutzt, die Liberalisierung des Getreidehandels zu verteidigen und eine »Politische Ökonomie der Spekulation« zu entwerfen. Die in dieser politischen Ökonomie dargestellte Sicht auf die Wirtschafts- und Finanzwelt war geprägt von der Überzeugung, dass ein Markt auf dem Profitinteresse der Händler beruhen müsse. Nicht Marktzwänge sollten ihre Entscheidungen vorherbestimmen oder ihr Marktverhalten regulieren, sondern Händler sollten selbst zukünftige und kontingente Entwicklungen antizipieren können und so stets aufs Neue auf den besten Zeitpunkt und Ort ihrer Transaktionen »spekulieren«.

Seit den 1780er Jahren wurde die Politische Ökonomie der Spekulation von Mathematikern verwendet, um die für den französischen Staat kostspielige Praxis der Leibrenten zu reformieren. »Spekulation« wurde somit gleichsam mathematisiert und verband nun politische Arithmetik, Algebra und Geometrie. Durch die Erfahrung der Insolvenz des französischen Staats, die nicht zuletzt durch Darlehen in Form von Leibrenten begründet war und derer sich die Revolutionäre seit 1789 annahmen, geriet »Spekulation« jedoch zunehmend unter den Verdacht der Wucherei und erhielt nun die Konnotation eines eigensüchtigen Spiels mit dem Allgemeinwohl. Diese Umdeutung hatte auch Auswirkungen auf die Interpretation der Vergangenheit. Europäische Zeitgenossen entdeckten nun die früheren, aleatorischen Praktiken der Aktienmärkte als »Spekulation«.